Anregung Gedankenexperiment...

  • Moin,


    viele kennen den Spruch, dass die Rechenmodelle zur Berechnung der Dekompression beim Tauchen nur Rechenmodelle sind und nichts mit den tatsächlichen Gegebenheiten im menschlichen Körper zu tun haben.
    Nicht wenige zitieren diesen Spruch auch, aber scheinbar haben nur die wenigsten verstanden, warum das so ist und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Und welche eben nicht.


    Daher vielleicht mal ein kleines Gedankenexperiment.


    Man stelle sich mal vor irgendein schlauer Forscher findet das richtige Rechenmodell, den perfekten Deko-Algorithmus, die absolute Deko-Wahrheit.
    Dieser erzeugt einerseits den kürzest möglichen Dekoplan, der andererseits zu 100% DCS frei ist, sprich 100% DCS-Sicher.
    Dafür muss man zwar ein Dutzend Parameter/ Variablen eintragen, aber kein Problem.


    Weiter gedacht ein Hersteller kauft diesem Forscher jetzt für viel Geld diesen Algorithmus ab und bringt zwei Produkte auf den Markt, einmal eine Desktopsoftware, mit der man sich Tabellen selber erstellen kann und eine Tauchcomputer.


    Wobei sich der Markt grob in drei Käuferschichten einteilen lässt, Taucher die auf Tabellen und Bottomtimer schwören, Taucher, für die ein TC das non-plus-ultra darstellt.
    Und in den großen Rest, welcher einen TC kauft, damit dieser sich für den Taucher merkt, was eben jener, nach dem Tauchgang, ins Logbuch eintragen will.
    Nach kurzer Zeit nutzen aber alle das eine oder andere Produkt und es gibt nichts anderes mehr.


    Trotzdem entwickelt sich ein Graben zwischen denjenigen, die nach Tabelle tauchen und denjenigen, die einen TC tatsächlich bei Dekotauchgängen nutzen.
    Erstere vermuten, dass TC-Liebhaber reine Technikfetischisten sind und allem hinter her rennen, wenn es nur bunt genug blinkt.
    Und eben jene Gruppe hält Tabellenjünger für rückständige Hinterweltler und Fortschrittsverweigerer und belächelt sie, ob der zu langen Dekozeiten. Schließlich bestimmen ihre Computer auf die Minute genau die Deko und sind dabei aber auch noch zu 100% DCS-Sicher.


    Dummerweise gibt es aber nun ein kleines Problem mit dem Deko-Algorithmus.
    Dem Forscher ist leider ein Fehler unterlaufen und die Pläne stimmen eben doch nicht zu 100%, sondern nur zu 95%.
    In 5% der Fälle sind die Dekozeiten zu kurz und es kommt zur DCS.
    Sprich der Algorithmus hat einen eingebauten Systemfehler.


    Was sind nun die Auswirkungen davon?


    Für die Sporttaucher? Nichts, sie machen keine Deko-TG.


    Für die Tabellenjünger? Eher gering. Der Fehler bei der Dekoberechnung und der Fehler durch das nicht angepasste Profil heben sich in den meisten Fällen auf und da wo das nicht der Fall ist, schlägt er auch nur bei 5% der Fälle zu.


    Und die TC-Liebhaber? Tja, die haben Grundsätzlich schlechte Karten, schließlich bedeutet Echzeitdeko eben auch keine versteckte Reserve. Aber ganz so schlimm ist es nicht, zum einen tritt hier DCS auch nur bei 5% auf und zum anderen zwingt sie ja keiner, immer nur die kürzest mögliche Deko zu machen.


    Allerdings stehen sie bei der Frage, was besser ist Tabelle oder TC, doch ziemlich dumm da und das von oben herab schauen ist keines Wegs angebracht gewesen. Wer zu Letzt lacht...
    Aber wahrscheinlich wird dieser Systemfehler im Rechenmodell gar nicht mal auffallen.
    Alle die es trifft, werden sich eher denken, dass sie die 5Kg, die sie über Weihnachten zu genommen haben, wohl vielleicht doch besser bei ihrem Gewicht angegeben hätten, als das sie einen Fehler im Algorithmus vermuten werden.




    Und wie sieht nun die Realität aus?
    Die Realität sieht so aus, wie das Szenario mit dem Systemfehler im Algorithmus.


    Mit zwei kleinen Unterschieden.
    Zum einen sind die verfügbaren Algorithmen ( Bühlmann usw.) unvollständig.
    Stand der Forschung ist, dass zum Beispiel Wärmehaushalt und Arbeitsbelastung eine riesigen Einfluss auf die Auf- und Entsättigung haben, man kann sie aber bisher nicht Einberechnen. Wird man vielleicht auch nie können.


    Und zum anderen ist es bekannt, dass die vorhandenen und geprüften Algorithmen einen "Systemfehler" haben und das weiß man deswegen, weil man ihn bei der Entwicklung der Algorithmen selber eingebracht hat.
    Der Grund dafür liegt in der Tatsache begründet, dass Menschen einfach zu unterschiedlich sind. Es gibt eine zu hohe Streuung.
    Hätte man wirklich versucht, 100% DCS freie Rechenmodelle und Tabellen zu bekommen, dann hätte das nur dazu geführt, dass man heute zu tage extrem lange Dekopläne benutzen würde, die aber für das Gros der Taucher keinen Nutzen gebracht hätte, sondern einfach nur zu lang sind.


    So hat jeder, ob Haldane, Workmann, Bühlmann usw., letztendlich gesagt, ein gewisses Risiko muss man in kauf gehen, dafür wird das ganze aber handhabbar.


    Und darum geht es eigentlich. Dekotheorie ist angewandte Statistik, Wahrscheinlichkeitsberechnung und wie man Risiken, die sich nur ungefähr bestimmen lassen, verschieben, bzw. minimieren kann.
    Das geht dann so weit, dass die US Navy Rechenmodelle entwickeln lassen hat, die nicht mehr absolute Zahlen als Dekoplan ausgeben. Sondern anders herum, für einen Dekoplan, eine DCS-Wahrscheinlichkeit ausgeben und der Anwender kann sich dann aussuchen, was er macht.
    All das ist aber nichts neues und jeder, der sich mal ein bisschen mit Dekotheorie beschäftigt hat, sollte das auch wissen.


    Nichts desto trotz findet man immer wieder Menschen, die...


    a. Stundenlang über Tabellen brüten, nur um auf Dekoverlaufskurven zu kommen, die ihrer Meinung nach, allen anderen Dekoplänen, scheinbar allein auf Grund der in sie investierten Arbeit überlegen sind. Das sie die dann aber sofort über den Haufen werfen, weil nach der ersten Nutzung ein leichtes Ziehen im linken Ohrläppchen hatten und das ja ein untrügliches Zeichen für die Dekoqualität ist, ist natürlich ein Zeichen besonderen Dekowissens.



    b. von der Überlegenheit ihrer Dekoalgorithmen überzeugt sind, welche aber zum einen nie wirklich empirisch überprüft wurden und zum anderen allen anderen Dekomodellen mehr oder weniger wieder sprechen. Wahrscheinlich werden durch spezielle Stopps nach ganz bestimmten Mustern geheime, verborgene Türen im menschlichen Körper geöffnet, die eine besonders effektive Dekompression ermöglichen.
    Und ähnlich wie in der Homöopathie wird dann das Fehlen von DCS, als Beleg für ihr Modell gewertet und nicht die Tatsache, das die Toleranzen ziemlich groß sind.


    c. der festen Meinung sind, dass je genauer man Tiefe und Zeit bestimmt, desto genauer und desto verlässlicher ist auch der ausgeworfene Dekoplan. Wohl gemerkt, ermittelt durch Rechenmodelle, die einen bewusst in Kauf genommen Systemfehler haben. Vielleicht will man mit der schieren Masse an Daten die Algorithmen verwirren, so das sie vergessen, dass sie einen Systemfehler haben.
    In der Messtechnik gibt es den Spruch "Wer viel misst, misst Mist."


    Dabei könnte es alles so einfach sein.
    Jeder der weniger Risiko eingehen will, verlängert seine Dekostopps und braucht etwas länger.
    Jeder der zu mehr Risiko bereit ist, verkürzt sie einfach und ist schneller raus.


    Grüße Christian

    115% meines Wissen kommt aus meiner Einbildung.
    Und den Rest sauge ich mir aus den Fingern.

    Einmal editiert, zuletzt von cos ()

  • In meinen Augen sind Deine Unterteilungen der Dekotypen zu stark typisiert,
    es ergeben sich gerade heute recht häufig Überschneidungen im Deko-Verhalten und Planungs/Berechnungsarten.


    Nehme auch an Du spielst auf die Kontroversen um die Sinnhaftigkeit von deepstops und die NEDU-Studien von 2006 an, auf RBW.


    Irgendwas ist komisch an der Sache finde ich,
    habe 2007 erstmalig davon gehört, extrem kochen tut die Chose jetzt?
    2013/2014?
    Gehts um Marketing, Profilierungsgehabe der Dekopäpste, persönliche Animositäten?


    Ich habe den Überblick verloren und zucke mit den Schultern.


    Würde dass so heiss gekocht werden wenn sich Ross Hemingway weniger laut und stur gegen die ( meiner Meiung nach sinnvollen ) Spin-off-Erkenntnisse der NEDU-Versuche wehren würde?


    Historisch hatte VPM eh keinen guten Start da das ursprüngliche Modell sehr agressiv gerechnet hat und mehrfach über die zulässige Blasenradien Konservativismuslevel "eingeblasen" wurden.


    Es wird auch anhand dieser Diskussionen mal wieder klar, wie unexakt und individuell Dekompression ist, egal welches primäre Werkzeug zur Dekoberechnung zur Anwendung kommt.


    Ich habe nichts gegen die Benutzung von Livedeco-rechnern wenn der Benutzer sich ausreichend an seine Ausbildung erinnert,
    dort wurde hoffentlich eingehend auf die unscharfen Korridore hingewiesen und alle Facetten beleuchtet.


    Livedekorechner bringen mit dem illusionären Versprechen der absoluten Werte uns in Versuchung, diese Art der Deko als " wahrhaftiger" und sicherer zu erachten.
    Trotzdem gibt es DCS-Fälle unter Anwendung von Tauchcomputern.


    Gleichzeitig vermeidet die Szene allzu konservative Rechner, z.B. SUUNTO TMX-Rechner sind nicht allzu populär, oder?


    Hat was paradoxes, der Tauchcomputer verspricht mehr Sicherheit, aber sehr konservativ rechnende Computer setzen sich nicht durch.


    Ist auf jeden Fall bequem, im Zweifel eine Software, ein Dekomodell oder einen Tauchcomputer für einen DCS-Fall verantwortlich zu machen.


    Grüsse,
    Hoffi

  • Moin Hoffi,




    Ich verweise mal auf Hanlon's Razor. Hanlon's Razor.


    Angeblich gibt es eine evolutionäre Veranlagung, dass Menschen gerne, von zwei Lösungen, die komplexere Wählen, siehe Religion, Verschwörungstheorien usw.
    Und Blasenmodelle sind nun mal komplexer und haben den Nimbus von Seriosität.
    Aber die Macher sind auch nicht ganz unschuldig an der Situation. Beispiel Ross Hemingway und Bruce Wienke.



    Zitat

    Original von nskdrs
    Würde dass so heiss gekocht werden wenn sich Ross Hemingway weniger laut und stur gegen die ( meiner Meiung nach sinnvollen ) Spin-off-Erkenntnisse der NEDU-Versuche wehren würde?


    Man muss Ross Hemingway eigentlich einen Ordner dafür überreichen, dass er den Thread auf Rebreather World mit seinem Verhalten so befeuert hat.
    Wo sonst findet man denn schon, den aktuellen Stand der Forschung an so zentraler Stelle zusammen gefasst.
    Und da durch das er einfach seine Klappe nicht halten konnte, ist jeder Punkt mehr als ein halbes Dutzend mal zerlegt, beantwortet und wieder von anderer Seite beleuchtet worden.


    Man müsste die wichtigsten Beiträge eigentlich ins deutsche Übersetzen und als Buch raus bringen.


    Grüße Christian

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    Und den Rest sauge ich mir aus den Fingern.

  • Christian, dass die meisten Leute Tauchcomputer gegenüber Tabellen bevorzugen, scheint Dich ja arg zu beschäftigen. Kannst Du nachts nicht mehr gut schlafen vor lauter Gram, fällt es Dir einfach nur schwer, die Meinung anderer Leute zu akzeptieren bzw. hinzunehmen oder welchen Grund hat dieses Aufbauschen zweier Grundsatzmeinungen? ;)


    Stelle doch mal ne Statistik zusammen, wieviele Tabellen- und wieviele TC-Nutzer bisher die schwarze Essenmarke empfangen haben und wie oft es dabei einfach nur menschliches Versagen, ein zuvor unbekannter medizinischer Defekt oder ein anderer nichttechnischer Fehler war.


    Wenn man dann die Unfälle aufgrund eines Rechenmodellversagers oder einer Fehlrechnung des Open Source- oder anderen TC herausfiltert, dürfte das weit unter 5% (eher mit ner 0 vor dem Komma) liegen.


    Dieser Umstand sollte aber selbst dem verbissensten Tabellen-Fanatiker bekannt und bewusst sein.
    Immer frei nach der Devise: "Traue keiner Statistik, die Du nicht selbst manipuliert hast!". :loool:

    Fördeschlosser


    Ich bin, wie ich bin. Die Einen kennen mich, die Anderen können mich.
    (Konrad Adenauer)

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